Langeweile Foto I.Friedrichs  pixelio.deIch sitze in der Tram und schaue mich um. Was sehe ich? Fast alle um mich herum schauen mit leicht gesenktem Haupt auf ihr Smartphone. Viele sind zusätzlich verkabelt und lauschen irgendwie leicht abwesend in sich hinein.
Wenn nichts los ist, man gerade von einem Ort zum anderen unterwegs ist, Zeit überbrücken muss, dann ist das die Gelegenheit: Reflexhaft zieht man das Handy heraus, checkt WhatsApp, liest Facebook oder spielt Angry Birds.
Und weil der Sommer vor der Tür steht: Es gibt sie nicht mehr, die endlosen Ferienwochen, in denen man früher manchmal nichts mehr mit sich anzufangen wusste. Die Langeweile wird abgeschafft.

Laut einer Umfrage ziehen 44 % der Deutschen automatisch ihr Mobiltelefon aus der Tasche, wenn sie z. B. auf den Bus warten. Bei den Jüngeren sind es sogar 73 %. Ich glaube sogar, es werden immer mehr.
In diesen Momenten richtet sich die Aufmerksamkeit des Gehirns nach außen. Handys machen uns nicht dumm, sondern sie stillen unseren Appetit auf endlose Unterhaltung. Es gibt nur zwei Zustände unserer Aufmerksamkeit: nach außen oder innen. Das funktioniert wie ein Schalter.
Die Folge: Auszeiten, in denen wir uns mit unserer Aufmerksamkeit nach innen wenden könnten, schwinden. Die Gedanken schweifen lassen – wozu?

Dabei sind Auszeiten für das Gehirn wunderbare Gelegenheiten für Geistesblitze. Die Phasen ungerichteten Denkens sind eine Quelle der Kreativität, sagen Psychologen. Viele Menschen erzählen, dass ihnen die besten Ideen bei Routinetätigkeiten kommen – beim Duschen, beim Autofahren, beim Aus-dem-Fenster-Gucken im Zug.
Eine Radiojournalistin, die zugibt, sich seit sieben Jahren nicht mehr gelangweilt zu haben, hat einen Sechs-Stufen-Plan entwickelt, um ihren Handy-Reflex einzudämmen. Sie fordert ihre Hörer auf, eine Woche lang jeden Tag eine neue Übung auszuprobieren:

1. Tag: Handy in der Tasche lassen, wenn ich mich von A nach B bewege!
2. Tag: Keine Handy-Fotos!
3. Tag: Eine besonders häufig genutzte App löschen!
4. Tag: Weder E-Mails noch Soziale Netzwerke checken!
5. Tag: Bewusst nach kleinen Beobachtungen suchen, die beim steten Blick aufs Handy entgangen wären!
6. Tag: Einen ordentlich gefüllten Topf mit Wasser auf den Herd setzen und dabei zuschauen, wie es zum Kochen kommt!

Klingt das banal? Viele der 19 000 Teilnehmenden berichteten von befreienden Erfahrungen. „Es gibt Tage, da erwische ich mich dabei, dass ich das Handy nur in der Hand halte, ohne offensichtlichen Grund“, so ein Kommentar. „Als wäre es eine Schmusedecke.“ „Oder ein Schnuller für die Hand.“

Ich finde diese Erkenntnis über unser privates Leben hinaus auch für die Arbeit mit jungen Menschen interessant. Gelingt es uns, in einer Gesellschaft pausenloser Unterhaltung Gelegenheiten der „langen Weile“ so zu gestalten, dass junge Leute sich darauf gut einlassen können? Welche Erfahrungen machen wir mit solchen Experimenten? Und natürlich: Gönnen wir uns selbst auch solch eine Aufmerksamkeit nach innen? Nur wenn ich selbst davon überzeugt bin, dass sich Langeweile lohnt, werde ich sie ja auch anderen gönnen wollen.

Foto: I.Friedrichs / pixelio.de

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