oder: Aufmerksamkeit bitte!

Kennst Du diesen Aufmerksamkeitstest: Zwei Mannschaften, eine in weiß, die andere in schwarz gekleidet, werden eingeblendet. Du als Zuschauer sollst in den nächsten Sekunden genau mitzählen, wie oft sich die weiße Mannschaft den Ball zupasst. Gesagt, getan: 1, 2, 3… Waren es jetzt 13 mal? Oder doch 15? Die Lösung wird am Ende des kleinen Clips verraten. Und dann wird gefragt, ob Du auch noch etwas anderes gesehen hast, was durch das Bild gelaufen ist… – den schwarzen Gorilla nämlich. Manche behaupten, nur 8% der Betrachter würden ihn beim ersten Mal wahrnehmen. Andere sagen, die Waage hält sich bei 50%. Dann wird der Film noch mal gezeigt: Tatsächlich. Da läuft der Gorilla ganz gemütlich von links nach rechts über die Bildfläche und bleibt sogar noch stehen, um sich stolz auf die Brust zu schlagen.
Die Monkey Business Illusion ist ein Beitrag der Forschung zum Thema „selektive Wahrnehmung“. Ja, man sieht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht – looking without seeing.

Im Zusammenhang mit den Auswirkungen der digitalen Revolution fragt die Erlanger Professorin für Christliche Publizistik, Johanna Haberer, ob es nicht eine wichtige religionspädagogische Aufgabe sein muss, mit jungen Menschen eine neue Aufmerksamkeit einzuüben, um der ständigen Ablenkung der digitalen Umwelt etwas entgegenzusetzen. Bei vielen jungen Menschen gehört alle Aufmerksamkeit der Netzkommunikation. Wer sich in diese Abhängigkeit begibt, dem droht zunehmender Verlust der Autonomie. Dauerbeurteilung (Likes und Sterne), Normierung von Aussehen oder Sprache, Druck dauernder Erreichbarkeit und ein nicht endend wollender Wettbewerb sind nur ein paar Stichworte. Im Sinne einer guten Selbstfürsorge könnte transparent diskutiert werden, wohin es sich lohnt, die eigene Aufmerksamkeit zu lenken. Und kritisch lässt sich fragen, ob ein digital organisierter Mensch überhaupt noch in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit selbst zu navigieren. Spätestens mit der niederländischen Übersetzung „Aandacht“ für Aufmerksamkeit deutet sich die spirituelle Dimension des Themas an und das Nachdenken darüber, wie sich in einer medialen Kommunikations- und Informationsgesellschaft unsere Vorstellungen von Transzendenz verändern.

Im Rahmen des Pfarrkonvents in der Wesermarsch haben wir uns u.a. mit dem Thema beschäftigt, wie es uns als Kirchenmenschen geht, wenn es zunehmend Situationen und gesellschaftliche Entwicklungen gibt, in denen wir als Kirche längst nicht mehr die Aufmerksamkeit von anderen haben, obwohl wir sie doch so gern hätten und auch brauchen, um die Kommunikation des Evangeliums auch über den gemeindenahen Horizont hinaus zu gestalten. Die Glocken der Kirche dringen durch den fulminanten Klangteppich der gesellschaftlichen Angebotspalette nicht mehr so richtig durch. Fühlen wir uns dann auch so wie der Gorilla, den keiner sieht? Viel lieber, so formulierte es ein Kollege, möchte ich doch einer von denen sein, der in der weißen oder Mannschaft aufmerksam Pässe spielt.

John Green („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“) berichtet in seinem Essayband „Wie hat ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ darüber, dass sich seine Aufmerksamkeit in den letzten Jahren so dermaßen zersplittert hatte und sein Leben aus dem Gleichgewicht geriet. Für ihn war der Rat seiner verstorbenen guten Freundin und Mentorin Amy Krouse Rosenthal hilfreich: „An alle, die herauszufinden versuchen, was sie mit ihrem Leben anstellen sollen: ACHTET DARAUF, WORAUF IHR ACHTET. Das ist im Grunde alles, was ihr wissen müsst.“

Holocaust-Gedenktag 27. Januar

Der 27. Januar ist jedes Jahr. Der internationale Holocaust-Gedenktag hält die Erinnerung wach, schafft Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema. So auch in unserer Familie.

Unsere Tochter Lea, 14 Jahre, fragt mich, ob ich ihr etwas über das Dritte Reich erzählen kann. Mach ich gerne. Auf einer Autofahrt erzähle ich, soweit ich das noch erinnere, von den Anfängen des Nationalsozialismus bis zum Beginn des Krieges. Von der Wurzeln des Antisemitismus. Von Rassenideologie, Euthanasie und nationalem Größenwahn. Zwei Tage später am Mitttagstisch folgt die Fortsetzung, die Kriegsjahre. Der ebenfalls anwesende ältere Bruder freut sich, dass er auch noch viel von dem weiß, was da berichtet wird. Und dann reden wir plötzlich über den einen Opa, der im Krieg war und in der Gefangenschaft und den anderen, der das Programm der Entnazifizierung durchlaufen hat.

Studien belegen, dass vier von zehn Schüler:innen ab 14 Jahren unabhängig von ihrer Herkunft nicht wissen, wofür Auschwitz steht. Die absolute Mehrheit der Deutschen glaubt nicht, dass ihre Vorfahren Täter oder Mitläufer waren. Wir haben es also anscheinend in unserer Gesellschaft nur mit Nachfahren von Opfern des Nazi-Regimes, heldenhaften Widerstandskämpfern oder mit Migranten zu tun.

Ein paar Tage nach unseren Geschichtslektionen kommt Lea aus der Schule mit dem Forschungsauftrag: Wer war Wernher von Braun? Mir fällt sofort unser Urlaub auf Usedom ein, bei dem wir dereinst das Raketenmuseum in Peenemünde erkundet haben.

Neben den Angeboten an Gedenkveranstaltungen, Lichtergängen, Filmen etc., die in diesem Jahr auch wieder in Präsenz angeboten werden, finde ich Spuren auf Papier spannend, das Computerspiel der Gedenkstätte Wehnen. Digital sollen die Schicksale der etwa 1500 ermordeten Patient:innen während der NS-Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt vermittelt werden. Bestimmt ein Spagat zwischen Sensibilität und Inhaltsvermittlung Damit werde ich mich mit meiner Familie mal auseinandersetzen.

In meinem ZEIT-Kalender“Was mein Leben reicher macht“ lese ich eine Erinnerung von Gernot Flick aus Wiesbaden:
Mein Vater war Schreiner, als Meisterstück baute er ein Schlafzimmer, das in der Nazi-Zeit aber nicht anerkannt wurde. Nur „deutsches“ Holz war zulässig, er jedoch hatte als Furnier Kaukasischen Nussbaum verwendet. Sein Schrank, diese wunderbare Handarbeit, ist meine einzige Erinnerung an ihn, denn ich war noch sehr klein, als er im Krieg blieb.

Und dann landet dieser Tage ein Brief unserer ehemaligen Nachbarin Waltraud Mann in unserem Briefkasten. Sie engagiert sich seit vielen Jahrzehnten bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. und war vor 20 Jahren für eineinhalb Jahren in Israel tätig. Im Rahmen ihrer Betreuungsarbeit besucht sie Alice Hausman. Im Gespräch mit der rüstigen und erblindeten Dame erzählt sie ihr, dass sie aus Kassel kommt.. Darauf erzählt Alice Hausman, dass ihre Eltern am 9. Dezember 1941 vom Kasseler Bahnhof in das Rigaer Ghetto transportiert wurden. Worauf Waltraud Mann berichtet, dass sie just an diesem Tag als kleines Mädchen mit ihrer Mutter bei der Abgabe eines Paketes am Bahnhof sah, wie man Juden über den Bahnhofsvorplatz zur Deportation führte. Für sie was das die erste und zutiefst prägende Begegnung mit der Shoah. Dann berichtet sie von einem Kunstprojekt, bei dem Schüler:innen Lebensblätter deportierter Juden erarbeiteten. Jedes Lebensblatt wurde um einen Stein gewickelt und zu einem Dokumentenkunstwerk zusammengestellt. Waltraud Mann, die vom Künstler Horst Hohesiel zum Mitmachen eingeladen worden war, bekam auch ein Lebensblatt, das von Meta Oppenheim. Als Alice Hausman das hört, wird es in ihrem Wohnzimmer plötzlich über einen längeren Zeitraum still. Das Gesicht der alten Dame bekommt einen schmerzlichen Ausdruck und sie muss weinen. Dann ruft sie: „Das war meine Mutter!“
Was für eine außergewöhnliche Geschichte! Und sie endet damit, dass Jahre später, Alice Hausman war gestorben, ihre Tochter Ruti Zurel mit ihrem Mann auf Einladung von Waltraud Mann nach Kassel kommt, mit ihr gemeinsam die Erinnerungswege der Familie Oppenheim/Hausman geht und auf dem jüdischen Friedhof das Kaddisch für ihre Verwandten, die vor der Shoa dort begraben wurden, spricht.

Als ich vor 9 Jahren Dave Eggers dystopischen (auch so ein Wort, dass ich damals nicht kannte) Roman The Circle gelesen habe, war das schon ziemlich verstörend. Die großen Internet-Konzerne aus dem Silicon Valley schließen sich zusammen und überwachen das Konsumverhalten und zunehmend das Privatleben der Menschen.

Im neuen Buch von Eggers bringt die größte Suchmaschine The Circle gemeinsam mit dem größten Social-Media-Anbieter und der Fusion mit dem erfolgreichsten Online-Kaufhaus (verdeckt dschungle genannt nach einem großen (ehemaligen?) Regenwaldgebiet in Südamerika) in naher Zukunft (die 2030iger Jahre) das reichste und gefährlichste – und seltsamerweise auch beliebteste Monopol aller Zeiten hervor: Every. Every wie überall und immer da. Endlich ein Gefühl von Ordnung oder Die letzten Tage des freien Willens oder Grenzenlose Auswahl zerstört die Welt.

Gelingt es der aus verschiedenen Gründen widerständigen Delaney, den übermächtigen Konzern von innen heraus zu Fall zu bringen? Steht ihr Freund Wes ihr dabei zur Seite? Am Anfang ist die Motivation der ehemaligen Park-Rangerin glasklar. Aber es passiert viel auf dem Every-Campus, was ihre Gedanken und Gefühle durcheinander bringt… Und immer wieder stellt sich ganz nach Erich Fromm die Frage, ob es außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung gibt?

Mich hat dieser Page-Turner erstens gepackt und zweitens am Ende mit einigen Fragen zurückgelassen, u.a. was mein eigenes digitales Verhalten und meinen Umgang mit der faszinierenden Welt der digitalen Möglichkeiten betrifft. Sollte ich meine SoundLink-Box doch lieber ganz abschalten, weil am Ende jemand mithört? Ach quatsch, das gibt´s doch gar nicht. Oder doch?

Ab welchem Alter Every von Dave Eggers geeignet oder besser gut zu lesen ist, kann ich gar nicht so genau sagen. Aber drüber reden, Ausschnitte vorlesen und diskutieren geht auf jeden Fall auch in der Konfi-Zeit. Und mit Teamer:innen sowieso.


Früher war es Gott, der dein gutes Verhalten sah und dich irgendwann dafür belohnte. Heute weißt du in Echtzeit, ob du gut gehandelt hast und bekommst vielleicht sogar die Antwort auf die bisher im Internet noch nicht hinreichend beantwortete Frage: „Bin ich gut?“
Am Ende ist es eine Zahl zwischen 1 und 1000.

Jesus Christus: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.

Von den vielen schönen Motiven, die sich Künstler:innen für die Jahreslosung 2022 aus Johannes 6, 37 überlegt haben, gefällt mir das von Dorothee Krämer besonders gut.

Gelbes, warmes Licht. Eine weiß leuchtende Menschenfigur. Mit offenen Armen empfängt sie die Kleinen und Großen, die in herrlich kräftigen Farben getaucht auf sie zuströmen. Eine hohe Anziehungskraft geht von den offenen Armen aus. Auch ich gehe durch die weit geöffnete Tür hinein zur Lichtgestalt. Ich bin willkommen!

So etwas zu spüren und dann auch noch zu hören, tut unendlich gut. Gerade jetzt. In diesen Zeiten. Manche Türen bleiben aus Sorge zu. Begegnungen, bei denen offene Arme als Geste selten geworden sind. Corona sorgt für abweisende Hände und Warnschilder, die auf Distanz halten. Die größte Sorge des Küsters war, am Heiligen Abend jemanden vor der Kirchentür stehen lassen zu müssen.

Komm her, wir nehmen uns in die Arme. Wünschen uns Gottes Segen, Frieden und Hoffnung. Wie schön, Dich hier bei mir zu haben. Drücken uns richtig fest. Geben uns herzlich die Hand.
Zur Zeit ist es maximal der Unterarm oder die Faust, die in Kontakt kommen. Aber zumindest bleibt uns der Augen-Blick – leider nicht im Video-Chat.
Bei aller Sehnsucht: Hoffentlich kommen wir uns nicht zu nahe. Stecken uns nicht gegenseitig an.

Keiner hat geahnt, dass das Jesuswort aus dem Evangelium des Johannes so
in unsere Zeit hinein spricht.
„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wir nie mehr Durst haben.“ Klar, dass es hier um viel mehr geht als um einen vollen Magen. Es geht um die Fülle des Lebens, um Glück und Geborgenheit, um Vertrauen und Heimat.
Wer das sucht, der ist bei Jesus richtig. Da kann das Haus proppevoll werden. Das Reich Gottes ist groß genug. Himmlisch weit. Da wird keiner rausgeworfen, abserviert, hinauskomplimentiert. Auf gar keinen Fall. Du nicht. Und ich auch nicht. Willkommen!

Übrigens: Gern hätten wir bei unserem vierten Konfi-Team-Tag im kommenden Februar die Jahreslosung mit diesem schönen Motiv mit über 200 jungen Menschen gefeiert. Aber das wird leider nichts. Zuviele Gs, zu viel Abstand, zu viel Sorge. So ein Mist. Aber wir holen das nach. Versprochen!

Karten, Plakate, Lesezeichen und Downloads für Websites und Gemeindebriefe zu diesem Motiv der Jahreslosung gibt es hier:
https://www.kraemershop.de

Spiel mit, sonst verlierst du alles!

Ein Wettbewerb. Eine Schule. Und eine gewagte Idee:
Was, wenn jeder deine Umweltsünden auf deinen Social-Media Accounts sofort sehen könnte?
Würdest du dich zusammenreißen?
Nur noch so viel verbrauchen an Energie, Essen, einfach allem, dass das Icon deiner App grün bleibt statt rot?
Würdest du fair spielen? Oder…ODER???

Darum geht es in Kerstin Guldens Debüt Fair Play. Ein fesselnder Roman über ein Experiment, das außer Kontrolle gerät.
Auf der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse (Kibum) im November wurde Fair Play als bestes Jugendbuch ausgezeichnet.

Wer also noch kurz vor dem Weihnachtsfest noch ein passendes Geschenk für junge Menschen sucht…
Ok, in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens habe ich das letzte Exemplar erwischt.
Na, zum Glück kann man es ja flugs per eBook oder als Hörbuch verschenken.

Kerstin Gulden, Fair Play. Spiel mit, sonst verlierst du alles!, Rowohlt-Verlag Hamburg 2021, als geb. Buch 18 €.