Kräfte für die Zukunft

„Die Zukunft ist ja eigentlich vorbei“, sagen Leute angesichts der permanenten Krisensituation. So berichtete es der Zukunftsforscher Matthias Marx im Rahmen des ersten Kacheltalks, an dem über 150 Menschen am vergangenen Mittwoch (9.3.2022) aus der ganzen Republik und darüber hinaus teilnahmen.

Es nützt nichts, angesichts der Sorgen der Menschen. Purer Optimismus im Sinne von „alles wird gut“ kann genauso grausam sein (Cruel Optimism) und zur mindestens neurotisch machen wie der auch nicht zu empfehlende Pessismismus, der immer schon gewusst hat, dass die Sache schlimm ausgeht. Und in Notlagen immer nur mit „Gott“ zu argumentieren, mag im religiösen Kontext funktionieren, baut aber keine Brücke in die Welt derer, die auch ohne eine überirdische Hoffnung den Kopf nicht in den Sand stecken wollen.

Die Macht der Hoffnung entfaltet sich da, wo wir unsere zu einfältig gestrickten Konstruktionen der Welterklärung ad acta legen und unseren Hoffnungsmuskel so trainieren, dass er mit der Realität mental zurecht kommt.

Was sind die Gegenkräfte, um Terror und Gewalt zu überwinden?
Fünf Kräfte der Zukunft empfiehlt Matthias Horx:
Die WUT kann Wunder wirken.
Die BESCHÄMUNG verbindet die Opfer der Gewalt mit denen, die helfen können.
Die VERACHTUNG trifft den Tyrannen, weil sie ihm klarmacht, dass seine Sehnsucht, geliebt und verherrlicht zu werden, nicht in Erfüllung geht.
Die VERNUNFT ist eine scharfe Waffe gegen die Lüge.
Die HOFFNUNG, die nicht gebrochen wird, bringt den Tyrannen zu Fall.

Einen ausführlichen Essay zum Thema mit der vollständigen Beschreibung gibt es hier:
https://www.horx.com/91-der-krieg-und-unsere-zukunft/

Was mich im Zusammenhang mit der Konfizeit beschäftigt, ist die Gedanke, welche Zukunftskräfte wir denn bei unseren Konfis wecken wollen. Die von Matthias Horx angeführten Kräfte sind ja erst mal nicht die, die wir in unseren Kursprogrammen vorgesehen haben.

Von Copiloten und anderen Erfahrungen mit der Bibel

Es fühlt sich noch ein wenig unvertraut an. Miteinander auf einer analogen Fortbildungsveranstaltung mit reduziertem Maskengebrauch in Bewegung zu kommen, sich in Kleingruppen austauschen, Installationen aufzubauen, bibliodramatisch durch den Raum zu gehen, gemeinsam an einem langen Tisch Mittag zu essen… Aber es geht.
Allein schon deshalb hat sich der KAJAK-Fachtag „Mein Leben und die Bibel“, der gemeinsam mit der Konfi-Arbeit der Bremischen Kirche am 8. März stattfand, gelohnt.

Astrid Thiele-Petersen, Theologin, Autorin und vieles mehr aus Plön, gestaltete mit uns ganz praktisch erfahrungsorientierte Methoden zu lebensrelevanten Themen von Konfis. Das besondere dabei ist, dass die Bibel dabei zum Handwerkszeug gehört und in die Erfahrung eingewoben wird. Klar geht es auch um Worte, aber mindestens genauso um Körperarbeit, Kunstwerke und Ausdruck von Gefühlswelten.
Ich jedenfalls hatte bis dahin noch nie beim Hören der Worte „du bereitest mir einen Tisch“ aus Psalm 23 einen Tisch mit Tellern eingedeckt oder beobachtet, wie jemand bei „ein Leben lang“ die Sehne eines Bogen bis auf äußerste spannt. Gelernt habe ich, dass es zur Gestaltung von kleinen Kunstwerken keine Materialschlacht braucht. Etwas anstrengend war es, mit einer kleinen Gruppe in einer halben Stunde einen begehbaren Raum zum Thema „Sterben und Tod Jesu“ zu gestalten. Die einen wollten die Aussichtslosigkeit mit einem Weg in die Sackgasse betonen, die anderen die Zuschauer des Geschehens ins Nachdenken bringen. Einigermaßen uneins waren wir uns, in welchen Zusammenhang sich das Thema „Mobbing“ und die Geschichte von der Ehebrecherin aus Johannes 8 bringen lässt.

Klar ist uns geworden, dass es für bestimmte Formate der Konfizeit gute Hinführungen braucht und die Erlaubnis, mit Texten, Gedanken und Gefühlen im vertrauten Rahmen wahlweise fromm, frech, frei oder auch ganz anders umzugehen.

Meine Lieblingserfahrung war übrigens die Suche nach Jesus nach seiner Auferstehung: Ich betrete mit meiner ahnungslosen Gruppe einen Raum, lege mich entspannt auf eine Decke und erkunde einen Stuhl der Marke Kusch – geliefert im April 2014 – von unten, als mir eine Papierkugel auf den Bauch fällt. „Klappe den Klavierdeckel auf“. Gesagt, getan findet sich dort ein weiterer Zettel. Wir suchen und finden inzwischen gemeinsam. Entdecken beim Blick aus dem Fenster in der Spiegelung im Haus gegenüber einen weiteren Hinweis, der unter uns an der Hauswand klebt, klamüsern einen Zettel aus einer Flasche, öffnen verschlossene Schränke und stellen am Ende fest: „ER ist nicht hier!“

Mehr Infos hier bitteschön:
Astrid Thiele-Petersen, Rainer Franke, Mein Leben und die Bibel. Lebensrelevante Konfi-Arbeit mit erfahrungsorientierten Methoden, Göttingen 2019

oder: Aufmerksamkeit bitte!

Kennst Du diesen Aufmerksamkeitstest: Zwei Mannschaften, eine in weiß, die andere in schwarz gekleidet, werden eingeblendet. Du als Zuschauer sollst in den nächsten Sekunden genau mitzählen, wie oft sich die weiße Mannschaft den Ball zupasst. Gesagt, getan: 1, 2, 3… Waren es jetzt 13 mal? Oder doch 15? Die Lösung wird am Ende des kleinen Clips verraten. Und dann wird gefragt, ob Du auch noch etwas anderes gesehen hast, was durch das Bild gelaufen ist… – den schwarzen Gorilla nämlich. Manche behaupten, nur 8% der Betrachter würden ihn beim ersten Mal wahrnehmen. Andere sagen, die Waage hält sich bei 50%. Dann wird der Film noch mal gezeigt: Tatsächlich. Da läuft der Gorilla ganz gemütlich von links nach rechts über die Bildfläche und bleibt sogar noch stehen, um sich stolz auf die Brust zu schlagen.
Die Monkey Business Illusion ist ein Beitrag der Forschung zum Thema „selektive Wahrnehmung“. Ja, man sieht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht – looking without seeing.

Im Zusammenhang mit den Auswirkungen der digitalen Revolution fragt die Erlanger Professorin für Christliche Publizistik, Johanna Haberer, ob es nicht eine wichtige religionspädagogische Aufgabe sein muss, mit jungen Menschen eine neue Aufmerksamkeit einzuüben, um der ständigen Ablenkung der digitalen Umwelt etwas entgegenzusetzen. Bei vielen jungen Menschen gehört alle Aufmerksamkeit der Netzkommunikation. Wer sich in diese Abhängigkeit begibt, dem droht zunehmender Verlust der Autonomie. Dauerbeurteilung (Likes und Sterne), Normierung von Aussehen oder Sprache, Druck dauernder Erreichbarkeit und ein nicht endend wollender Wettbewerb sind nur ein paar Stichworte. Im Sinne einer guten Selbstfürsorge könnte transparent diskutiert werden, wohin es sich lohnt, die eigene Aufmerksamkeit zu lenken. Und kritisch lässt sich fragen, ob ein digital organisierter Mensch überhaupt noch in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit selbst zu navigieren. Spätestens mit der niederländischen Übersetzung „Aandacht“ für Aufmerksamkeit deutet sich die spirituelle Dimension des Themas an und das Nachdenken darüber, wie sich in einer medialen Kommunikations- und Informationsgesellschaft unsere Vorstellungen von Transzendenz verändern.

Im Rahmen des Pfarrkonvents in der Wesermarsch haben wir uns u.a. mit dem Thema beschäftigt, wie es uns als Kirchenmenschen geht, wenn es zunehmend Situationen und gesellschaftliche Entwicklungen gibt, in denen wir als Kirche längst nicht mehr die Aufmerksamkeit von anderen haben, obwohl wir sie doch so gern hätten und auch brauchen, um die Kommunikation des Evangeliums auch über den gemeindenahen Horizont hinaus zu gestalten. Die Glocken der Kirche dringen durch den fulminanten Klangteppich der gesellschaftlichen Angebotspalette nicht mehr so richtig durch. Fühlen wir uns dann auch so wie der Gorilla, den keiner sieht? Viel lieber, so formulierte es ein Kollege, möchte ich doch einer von denen sein, der in der weißen oder Mannschaft aufmerksam Pässe spielt.

John Green („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“) berichtet in seinem Essayband „Wie hat ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ darüber, dass sich seine Aufmerksamkeit in den letzten Jahren so dermaßen zersplittert hatte und sein Leben aus dem Gleichgewicht geriet. Für ihn war der Rat seiner verstorbenen guten Freundin und Mentorin Amy Krouse Rosenthal hilfreich: „An alle, die herauszufinden versuchen, was sie mit ihrem Leben anstellen sollen: ACHTET DARAUF, WORAUF IHR ACHTET. Das ist im Grunde alles, was ihr wissen müsst.“

Holocaust-Gedenktag 27. Januar

Der 27. Januar ist jedes Jahr. Der internationale Holocaust-Gedenktag hält die Erinnerung wach, schafft Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema. So auch in unserer Familie.

Unsere Tochter Lea, 14 Jahre, fragt mich, ob ich ihr etwas über das Dritte Reich erzählen kann. Mach ich gerne. Auf einer Autofahrt erzähle ich, soweit ich das noch erinnere, von den Anfängen des Nationalsozialismus bis zum Beginn des Krieges. Von der Wurzeln des Antisemitismus. Von Rassenideologie, Euthanasie und nationalem Größenwahn. Zwei Tage später am Mitttagstisch folgt die Fortsetzung, die Kriegsjahre. Der ebenfalls anwesende ältere Bruder freut sich, dass er auch noch viel von dem weiß, was da berichtet wird. Und dann reden wir plötzlich über den einen Opa, der im Krieg war und in der Gefangenschaft und den anderen, der das Programm der Entnazifizierung durchlaufen hat.

Studien belegen, dass vier von zehn Schüler:innen ab 14 Jahren unabhängig von ihrer Herkunft nicht wissen, wofür Auschwitz steht. Die absolute Mehrheit der Deutschen glaubt nicht, dass ihre Vorfahren Täter oder Mitläufer waren. Wir haben es also anscheinend in unserer Gesellschaft nur mit Nachfahren von Opfern des Nazi-Regimes, heldenhaften Widerstandskämpfern oder mit Migranten zu tun.

Ein paar Tage nach unseren Geschichtslektionen kommt Lea aus der Schule mit dem Forschungsauftrag: Wer war Wernher von Braun? Mir fällt sofort unser Urlaub auf Usedom ein, bei dem wir dereinst das Raketenmuseum in Peenemünde erkundet haben.

Neben den Angeboten an Gedenkveranstaltungen, Lichtergängen, Filmen etc., die in diesem Jahr auch wieder in Präsenz angeboten werden, finde ich Spuren auf Papier spannend, das Computerspiel der Gedenkstätte Wehnen. Digital sollen die Schicksale der etwa 1500 ermordeten Patient:innen während der NS-Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt vermittelt werden. Bestimmt ein Spagat zwischen Sensibilität und Inhaltsvermittlung Damit werde ich mich mit meiner Familie mal auseinandersetzen.

In meinem ZEIT-Kalender“Was mein Leben reicher macht“ lese ich eine Erinnerung von Gernot Flick aus Wiesbaden:
Mein Vater war Schreiner, als Meisterstück baute er ein Schlafzimmer, das in der Nazi-Zeit aber nicht anerkannt wurde. Nur „deutsches“ Holz war zulässig, er jedoch hatte als Furnier Kaukasischen Nussbaum verwendet. Sein Schrank, diese wunderbare Handarbeit, ist meine einzige Erinnerung an ihn, denn ich war noch sehr klein, als er im Krieg blieb.

Und dann landet dieser Tage ein Brief unserer ehemaligen Nachbarin Waltraud Mann in unserem Briefkasten. Sie engagiert sich seit vielen Jahrzehnten bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. und war vor 20 Jahren für eineinhalb Jahren in Israel tätig. Im Rahmen ihrer Betreuungsarbeit besucht sie Alice Hausman. Im Gespräch mit der rüstigen und erblindeten Dame erzählt sie ihr, dass sie aus Kassel kommt.. Darauf erzählt Alice Hausman, dass ihre Eltern am 9. Dezember 1941 vom Kasseler Bahnhof in das Rigaer Ghetto transportiert wurden. Worauf Waltraud Mann berichtet, dass sie just an diesem Tag als kleines Mädchen mit ihrer Mutter bei der Abgabe eines Paketes am Bahnhof sah, wie man Juden über den Bahnhofsvorplatz zur Deportation führte. Für sie was das die erste und zutiefst prägende Begegnung mit der Shoah. Dann berichtet sie von einem Kunstprojekt, bei dem Schüler:innen Lebensblätter deportierter Juden erarbeiteten. Jedes Lebensblatt wurde um einen Stein gewickelt und zu einem Dokumentenkunstwerk zusammengestellt. Waltraud Mann, die vom Künstler Horst Hohesiel zum Mitmachen eingeladen worden war, bekam auch ein Lebensblatt, das von Meta Oppenheim. Als Alice Hausman das hört, wird es in ihrem Wohnzimmer plötzlich über einen längeren Zeitraum still. Das Gesicht der alten Dame bekommt einen schmerzlichen Ausdruck und sie muss weinen. Dann ruft sie: „Das war meine Mutter!“
Was für eine außergewöhnliche Geschichte! Und sie endet damit, dass Jahre später, Alice Hausman war gestorben, ihre Tochter Ruti Zurel mit ihrem Mann auf Einladung von Waltraud Mann nach Kassel kommt, mit ihr gemeinsam die Erinnerungswege der Familie Oppenheim/Hausman geht und auf dem jüdischen Friedhof das Kaddisch für ihre Verwandten, die vor der Shoa dort begraben wurden, spricht.

Spiel mit, sonst verlierst du alles!

Ein Wettbewerb. Eine Schule. Und eine gewagte Idee:
Was, wenn jeder deine Umweltsünden auf deinen Social-Media Accounts sofort sehen könnte?
Würdest du dich zusammenreißen?
Nur noch so viel verbrauchen an Energie, Essen, einfach allem, dass das Icon deiner App grün bleibt statt rot?
Würdest du fair spielen? Oder…ODER???

Darum geht es in Kerstin Guldens Debüt Fair Play. Ein fesselnder Roman über ein Experiment, das außer Kontrolle gerät.
Auf der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse (Kibum) im November wurde Fair Play als bestes Jugendbuch ausgezeichnet.

Wer also noch kurz vor dem Weihnachtsfest noch ein passendes Geschenk für junge Menschen sucht…
Ok, in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens habe ich das letzte Exemplar erwischt.
Na, zum Glück kann man es ja flugs per eBook oder als Hörbuch verschenken.

Kerstin Gulden, Fair Play. Spiel mit, sonst verlierst du alles!, Rowohlt-Verlag Hamburg 2021, als geb. Buch 18 €.