Den Blick schweifen lassen. Die Aussicht genießen. Den dichten Nebel überblicken. Ein wenig geht es uns vielleicht wie dem Wanderer über dem Nebelmeer, 1817 von Caspar David Friedrich gemalt. Der Wanderer ist zugleich ein Teil der Natur, die er betrachtet und zugleich ein Fremder, der urban gekleidet schroffe Felsen erklimmt.
So sollten wir es mit den sogenannten Megatrendsmachen, die von Wissenschaftlern ausgemacht werden. Sie wirken dauerhaft auf allen Ebenen und beeinflussen die Tiefenstruktur der Gesellschaft, mindestens international und oft auch global. Und das sind sie, die Megatrends: Urbanisierung, Indiviualisierung, Gendershift, Wissenskultur, Silver-Society, Sicherheit, Konnektivität, Neo-Ökologie, Gesundheit, Globalisierung, New Work und Mobilität.
Und wir als Kirche sind mittendrin und fragen uns, was das mit uns macht, ob wir dem wehrlos ausgesetzt sind, ob wir dem etwas entgegenhalten können oder überhaupt sollten. Viele spannende Herausforderungen. Es lohnt, sie zu diskutieren und gute Schlussfolgerungen zu ziehen. Sowohl für die Institution als auch für die persönliche Haltung.
Bei einem eindrucksvollen Besuch in der ZEIT-Redaktion am Speersort 1 in Hamburg entdeckte ich einen Spruch, den ich mir gerne zu eigen mache, um mein eigenes Selbstverständnis und Lebensgefühl – in kleiner Münze und auf mein Umfeld bezogen – zu beschreiben: „Du veränderst die ZEIT, die ZEIT verändert dich!“
„Wo finde ich meinen Platz? Eisbrecher*innen. Wohnzimmerkirche. Idee-Café DelVaSt. Umgang mit Widerständen. Orts- oder Neigungsgemeinden?! Wo ist mein Team – wer ist meine Basis? Christliche Lebensgemeinschaft. Offenheit für Veränderungen? Spielraum. Konfi-Event fröhlich und entspannt planen. Beharrungsvermögen von Systemen. Gottesdienste, wie ICH sie mag.„
Was machen wir eigentlich hier? 13 Menschen, die sich ehren- und hauptamtlich in Kirche und für den Glauben engagieren – vom 22.-26. Mai 2023 bei schönstem Frühlingswetter. In einer ehemaligen reformierten Kirche in Oosterbierum, einem kleinen Ort in der Nähe von Harlingen ganz im Westen Frieslands; das Meer ist einen Spaziergang nah. Die Kirche ist jetzt offiziell keine Kirche mehr. Sie sieht jetzt aus wie ein großes Loft. Mehrere Couchlandschaften auf verschiedenen Ebenen. Ein langer Holztisch, an dem wir essen, diskutieren, spielen, schreiben, zeichnen. Drei Bäder, fünf Schlafzimmer. Kanzel und Orgelprospekt vis a vis im Raum als Blickfang. Eine große, offene Küche, um morgens Rührei – gespendet von den hauseigenen Zwerghühnern – und abends Drei-Gänge-Menüs zu zaubern.
Was ist der Plan? Auf der Hinreise beim Kloster Ihlow Halt machen und sich mit der Geschichte der 28 Klöster in Friesland beschäftigen, deren gesammelte Spuren hier zusammengetragen wurden. Die beeindruckende Holz-Stahl-Konstruktion, die die Größe der einstigen Klosteranlage erahnen lässt, schenkt uns einen wichtigen Gedanken. Es ist so, wie wenn der auf dem Boden der Klosterkirche gewachsene Baum andeutungsweise das Deckengewölbe stützt: Das Alte trägt das Neue.
Vor Ort in De Kraak van Van Dam steigen wir gleich ein: Wir formulieren unsere persönlichen christlichen Kernbotschaften und verknüpfen sie mit Entdeckungen in und um den Kirchenraum. Bewusst unter Zeitdruck (wir können angesichts der großen Herausforderungen nicht ewig diskutieren) stellen wir uns der Aufgabe: Wir einigen uns auf drei Begriffe, die für uns grundlegend für Kirche sind. Wichtiger als diese Momentaufnahme – „Spiritualität“, „Biblische Hoffnungsgemeinschaft“ etc. – ist die Erfahrung, wie ich mich selbst an solchen Findungsprozessen beteilige und mitgenommen fühle. Am Ende steht die Frage im Raum: An welchen Stellen spiele ich meine „Karten“ aus?!
An Tag zwei hören wir von Erfahrungen aus anderen Landeskirchen, pinnen persönliche und kirchliche Gedankenbaustellen an die Kanzel (siehe Titelbild), beschäftigen uns mit coolen Tools zur Sozialraumorientierung, verfeinern unsere gestalterischen Talente beim Sketchnoting-Blitzkurs und texten mithilfe aller Welt bekannten Melodien liturgische Liedrufe für Taufe, Trauung und Bestattung – dem kleinen grünen Kaktus und dem roten Pferd sein Dank!
Übrigens: An den Abenden kommen weitere Talente und Hobbys zur Entfaltung, sei es beim Rum-Tasting, Karaoke-Singen, Pool-Billiard oder Bienenkunde-Semiar (hier inklusive allerleckerstem Wabenhonig).
„Halte es jederzeit für möglich, Gott zu begegnen!“ Mit diesem Auftrag erkunden wir am dritten Tag mit allen Sinnen die zauberhafte Hafenstadt Harlingen und begegnen der Mutmacherin, dem Teamgeist und dem Knotendurchschlager, die unsere aktuelle Wut aushalten und unserer Sehnsucht nach Veränderung Raum verschaffen. Angeregt sind wir dabei durch die Begegnung mit Nico und Jan aus der lutherischen Gemeinde in Harlingen, die mutmachend von ihren Erfahrungen in einer Freiwilligenkirche berichten.
Risse und Glanz – unter dieser Überschrift beginnen wir Tag vier mit einem Austausch zu Thesen, warum Kirche keine Zukunft hat und welche acht starken Perspektiven dennoch Anlass zur Hoffnung geben: #Kirche hat Zukunft, weil sie nicht Reförmchen am System, sondern die Reform des Systems anstrebt (super Idee, wir fangen gleich an…) Ganz konkret entwickeln wir Praxis-Projekte: Wohnzimmerkirche, Spirituelle Räume, Gottesdienste für Familien. Kreativ geht es weiter mit einer Schreibwerkstatt-Expedition ins Blaue hinein. Im Anschluss fragen wir: Was ist eigentlich Innovation, sowohl radikal wie auch inkrementell? Was braucht es dafür? Netzwerk, Struktur… . Wir lernen das House of Change kennen und den Golden Circle oder Start with Why! Wir feiern Abendmahl, schicken der zeitgleich tagenden Synode der oldenburgischen Kirche unsere ver-rückten Ideen und treffen Verabredungen: Wir unterstützen uns gegenseitig bei geplanten Projekten, inspirieren andere, die leider nicht live mit dabei sein können. Selbstverständlich machen wir weiter: charge ´n change goes on!
Was für eine intensive Zeit. Viel Tiefgang. Nachdenklickeit. Feierlaune. Monatslieder u.a.: Das kleine Vertrauen, Der Himmel bist du, Deinetwegen. Eine feste Burg. Spaziergänge. Fahrradtouren, Dauerläufe am Deich, farbenprächtige Sonnenuntergänge…
Am letzten Tag räumen wir unsere Wohn-Kark und machen auf der Rückfahrt in Groningen halt, um gesammelte Kirchenexponate der Stadt in Augenschein zu nehmen.