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Commander Spock aus dem Star-Trek-Universum soll der erste gewesen sein, der das Wort Singularität geprägt hat. Damals ging es um Risse im Weltall und Schwarze Löcher. Zu noch größerer Bekanntheit ist der Begriff durch den preisgekrönten Bestseller „Die Gesellschaft der Singularitäten“ des Soziologen Prof. Dr. Andreas Reckwitz gekommen, den er 2017 veröffentlicht hat und dessen überzeugende und präzise Ausführungen seitdem den Diskurs innerhalb der Gesellschaftstheorie mit bestimmt.

Ich hatte die Gelegenheit, im Rahmen eines Studientages des Pastoralkollegs Niedersachsen in Hannover Andreas Reckwitz live zu erleben. Mindestens ebenso erhellend die Vorträge des Professors von der Humboldt-Universität aus Berlin waren die theologischen Anknüpfungen von Dr. Claas Cordemann aus Loccum.

Die organisierte Moderne, die von etwa 1920 bis Mitte/Ende der 1970iger Jahre reicht, lässt sich mit dem Stichwort der „Massenkultur“ beschreiben. Das Allgemeine ist das Normale. Standardisierte Wohnsiedlungen und Warenwelten stehen dafür ebenso wie Massenmedien, Rationalisierung, Volksparteien, Demokratisierung und die Orientierung am Allgemeinwohl. Wer zur „Gesellschaft der Gleichen“ gehören will, achtet darauf, nicht allzu sehr aufzufallen. Die sorgenvolle Frage: „Was sollen nur die Nachbarn dazu sagen?“ passt wunderbar in diese Zeit.

In den letzten Jahrzehnten hat sich mit der Spätmoderne ein Wandel vom Allgemeinen zum Besonderen vollzogen. Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen, einer kuratierten Biografie und einer beeindruckenden Performance. Das gleiche gilt für unverwechselbare Güter, abgefahrene Events und attraktive Städte. Im Sozialkulturellen findet ein Wertewandel statt hin zu einer Selbstverwirklichungsrevolution einer neuen akademischen Mittelklasse, deren einzigartige Kinder „florieren“. Die Ökonomie wird getragen vom Dienstleistungssektor (waren in den 70ger Jahren noch 50% der Erwerbstätigen noch im industriellen Sektor tätig, sind es aktuell nur noch 20%) mit einem ausdifferenzierten Konsumangebot für alle Lebensbereiche, das persönliche Befriedigung verspricht. Der dritte Faktor ist der technische Wandel durch die digitale Revolution. Von ARD und ZDF hin zum Wettbewerb um Aufmerksamkeit im Internet und den Sozialen Medien. Jede:r empfängt auf seinem Handy den einzigartigen Fingerabdruck seiner Surf-Reise durchs Netz. Geboren ist die „Gesellschaft der Singularitäten“ mit der Botschaft „The Winner takes it all!“ Und schon wird klar, dass diese sozial „fabrizierte“ und medial verstärkte Gesellschaft nicht eben nicht nur strahlende Sieger:innen kennt. Die neugierig-gespannte Frage: „Na, was sagen denn die Nachbarn?“ passt in diese Zeit.

Mir leuchten viele der Analysen von Andreas Reckwitz unmittelbar ein. Spannend ist in der Folge die Frage, was die Beschreibung der Gegenwart für uns als Kirche bedeutet. Dazu hat Claas Cordemann einige Gedanken formuliert, die zur Anknüpfung einladen:
1. Kirche ist selbst ein Teil der Gesellschaft der Singularitäten. Im Bemühen, traditionell-agendarische Formate mit singulären Erwartungen und Idee in Einklang zu bringen (Tauf-Events, Hochzeiten mit Hunden, die die Ringe zum Altar bringen, neue Gottesdienste) geht es darum, auf dem Markt weiterhin „sichtbar“ zu bleiben. Sichtbarkeit ist Relevanz.
2. Das Urbild des „Heiligen“ ist der Prototyp der Singulären. Spirituelle Sphären, magische Ort, Halt gebende Rituale, Priester, Dogmen etc. sind das Pfund, mit dem Kirche sich ins Gespräch mit der modernen Gesellschaft einbringen kann.
3. Das Sehnsucht nach Singularität entwickelt eine quasi religiöse Funktion. Wir sind in einer unübersichtlichen Welt auf der Suche nach Motivation und Sinn für unser Leben.
4. Wie gelingt es uns, das Evangelium so zu kommunizieren, dass einerseits die Singularitätserwartung an Performance erfüllt wird und zugleich der Imperativ der Selbstverwirklichung nicht als überfordernde Leistung interpretiert wird? Was bedeutet es für das Individuum, dass die Sehnsucht nach Anerkennung nach unserem Verständnis in diesem Leben nie vollends in Erfüllung gehen kann? Singularität bringt keine Erlösung. Vielleicht ist auch hier die Rechtfertigungslehre ein hilfreicher Ansatz: Die unbedingte Anerkennung erfährt der Mensch nur von Gott. So zu denken und zu glauben entlastet vom ständigen Druck der Selbstdarstellung und spaltet die Welt der Wertschätzung nicht auf in die, die es geschafft haben und die, die auf der Verliererstraße gelandet sind.

Was die Theorie der „Gesellschaft der Singularitäten“ für die Performance und die Inhalte unserer Konfizeit bedeutet, darüber muss ich noch mal genauer nachdenken… – bestimmt tun andere das ja auch 🙂